Helden- und Opfernarrative in der sorbischen Geschichtskultur

„Wulkeho Słowjanow splaha / najmjeńši narod smy my, / synojo serbskeho kraja, / synojo łužiskej‘ krě“ (‚Des großen Slawengeschlechtes / kleinstes Volk sind wir, / Söhne des sorbischen Landes, / Söhne Lausitzer Bluts‘) – so die erste Strophe eines sorbischen Lieds, das Jurij Brězan 1946 unter dem Titel „Hymnus der Sorben“ verfasste. In der Vertonung von Jurij Winar war es bis 1989 Bestandteil des ständigen Repertoires sorbischer Chöre, von Massenchören, Schulchören bis hin zum Mädchenkammerchor der Musikschule Bautzen. An den Schulen mit Sorbischunterricht in der Ober- und Niederlausitz gehörte es zum Lehrplan. Inhaltlich widerspiegelt es stereotype Geschichtsbilder vom kleinem Volk (ohne Staat aber mit territorialem Anspruch), von Knechtschaft unter Fremdherrschaft, von slawischer Brüderlichkeit als kollektivem Gefühl sowie von heroischer Befreiung und verpflichtender Freundschaft: ‚Jahrhunderte wurden wir unterdrückt, / über uns hat die Peitsche geherrscht, / weißes Brot haben wir für die Herren geerntet, / für uns blieb nur der Stock‘; ‚Vor dem gewissen Tode und Grabe / haben uns Brüder befreit. / Mit Blut durchtränkt ist die Straße, / die die Sorben nun beschreiten‘; ‚Die dankbaren Sorben möge / das für sie vergossene Blut verbinden: / auf ewig blühe die Freundschaft / zu den Völkern der Sowjetunion‘. Der Hymnus ist nur ein Beispiel von vielen für die Manifestation kollektiver Überzeugungen, die die sorbische Gedächtniskultur der DDR-Generationen beeinflusst und ein Bild von der eigenen Nationalgeschichte im Zeichen von „Heroismus und Viktimismus“ (Martin Sabrow) geprägt haben.

Ziel des Vorhabens ist die Analyse von Helden- und Opfernarrativen in der sorbischen Geschichtskultur. Dabei geht es sowohl um die Ermittlung der entsprechenden Narrative in wissenschaftlichen wie populärwissenschaftlichen Werken der Geschichtsschreibung als auch um die Analyse ihrer Funktions- und Wirkweise (Fremd- und Selbstzuschreibung, zuschreibende Akteure und Medien) bzw. ihrer Ausstrahlung auf die Publizistik und Populärkultur. Welche kultur- gruppen- und zeitspezifischen Prägungen sind feststellbar? Inwieweit entsprechen Helden- und Opfernarrative als Phänomene kultureller Selbstvergewisserung den Bedürfnissen nach Identität und Sicherheit?


Projektbeteiligte: Susanne Hose